Oberkörper eines Kellners mit Schürze, Handschuhen und Tablett vor grauer Wand

Blind im Gasthaus – Teil 1

Nachdem ich meinen diversen Krankenhausaufenthalten glücklich und vor allem lebend entronnen, wieder gesellschaftsfähig und tageslichttauglich bin, werde ich mein wiedergewonnenes Leben mit einem Besuch in unserem Lieblingsgasthaus feierlich begehen. An meiner Seite ist jene Frau, die den harten Job auf sich genommen hat, mich zu heiraten. Und auf meinem Rücken, unser Malteser Jacky, der mich ertragen muss und den ich deswegen tragen darf. Geführt werden wir beide, also das Wiesel und ich, von unserer großen Blindenführhündin Arya, die mir auch hin und wieder gestattet, mich bei Frauchen festzuhalten und mich nicht am nächsten Laternenpfahl abstreift.

Da ich nach wie vor davon überzeugt bin, dass viele Kriege nur deswegen geführt wurden, weil die Heerführer Hunger hatten und deswegen zu erhöhter und irrationaler Aggression neigten, empfahl ich meiner Frau – um unserer zukünftigen Beziehung Willen – einen Zahn zuzulegen, denn mir knurrte schon ordentlich der Magen. Ich hörte noch einige Male das Farberkennungsgerät, mit dessen Hilfe meine Frau letzte Hand an ihre Garderobe legte und dann erschien sie.

Meine Gedanken an fleischliche Gelüste im Restaurant wurden massiv von anderen fleischlichen Begierden verdrängt, denn das was mir da in meinen Gesichtserker kroch war Aphrodisiakum vom Feinsten. Ein Parfum, welches ich ihr anlässlich ihres letzten Freudenfestes geschenkt hatte. Aber das Knurren meines Magens verdrängte die Gedanken an lebensverkürzende Turnübungen. Sabine sattelte ihre Arya, ich schnallte mir den Hunderucksack auf den Rücken und wir ritten vom Hof, also naja…gingen aus der Wohnung.

Film ab…

Mit Hilfe unserer Navi-App auf meinem Handy fanden wir den Tempel des Genusses recht schnell Zum Glück auch die Tür, welche durch einige Raucher und den unverkennbaren Zigaretten-Geruch markiert wurde, da die ja nun zwischen einer schnellen Zigarette in der Kälte und einem rauchfreien Lokal wählen können. Einer davon hielt uns freundlicherweise die Tür auf und wir standen im Eingangsbereich. Wie bestellt und nicht abgeholt, alle Gespräche verstummten kurz. Ich hatte spontanes Kopfkino: Der Bösewicht mit Cowboyhut und Waffengürtel tritt in den Saloon, alles verstummt und starrt auf den Bösewicht bevor dieser seinen Colt zieht und… Moment! Sind wir jetzt die Bösewichte in dieser Szene? Zum Schießen sind wir doch gar nicht gekommen. Unser Essen war hoffentlich schon tot. Wir wären in diesem Moment über eine menschliche Ansprache doch froh gewesen. Zum Beispiel ob wir einen Tisch wollen. „Nein,“ hätte ich gesagt „Wir sind zum Reifen wechseln da.“

SO NICHT! Es bringt nichts blinde Gäste anzustarren, die Augenbrauen hoch zu ziehen oder mit sprechenden Blicken und einer Handbewegung auf einen Tisch zu zeigen. 

Und immer wieder: Wie bestellt und nicht abgeholt…

Angriff ist in diesem Moment die beste Verteidigung. Wir „stürmten“ also das Lokal, damit fühlte sich doch noch jemand bemüßigt uns anzusprechen und uns nach unserem Begehr zu fragen. Ich kam nicht dazu meinen Reifenwechsel-Sager abzulassen, denn das Wiesel schnitt mir das Wort ab und erklärte unserem Gegenüber, dass wir einen Tisch reserviert hatten. Dieser drehte sich hörbar auf dem Absatz um, nuschelte „Folgen Sie mir“ und raste davon. Selbst für Arya war es in diesem Gewirr aus Stühlen, Tischen und Beinen nicht möglich ihm zu folgen und da standen wir also wieder. Nach einiger Zeit (mir kam es wie eine Unendlichkeit vor), vernahm ich die Stimme im Gewirr: „Hier ist Ihr Tisch!“ Na wenigstens, ein Hinweis auf die Richtung und wir zogen vorsichtig in die Richtung los, aus der die Stimme kam.

SO NICHT! Mich unterzuhaken verlange ich in einer solchen Situation ja gar nicht mehr, aber wenigstens ein wenig mehr Hinweise darauf, in welche Richtung ich starten soll.

Ist das neuerdings ein Steh-Lokal?

Seltsamerweise bekommen wir, also meine Frau und ich, in der Mehrzahl der Fälle einen Tisch in der Nähe der Toiletten. Ich zweifle dadurch immer wieder an der Qualität des Essens. Haben sie Angst, dass ihre Speisen so schlecht riechen, dass man gerade blinde Menschen eher zum WC setzt? Nun gut, denken wir uns und wollen uns setzen. Arya hat meiner Frau natürlich längst den Sitzplatz gezeigt, aber ich stand mal wieder ein wenig verloren in der Gegend herum. Hilfe beim Auffinden meines Sessels? Fehlanzeige! 

SO NICHT! Auch wenn ein Hund dabei ist, ist es immer hilfreich, zumindest einen Hinweis zu den Standorten der Sitzmöglichkeiten zu geben. Nach einer Nachfrage könnte man auch meine Hand auf die Lehne legen.

Und da beschleicht er mich auch schon, der Gedanke, dass ihm wohl einer unserer Sensibilisierungsworkshops für den Gastro-Bereich wirklich gutgetan hätte. Und unserem Ausgeh-Erlebnis vermutlich auch.

Was geschah, als nichts geschah werde ich zu einer anderen Zeit berichten…