Ein Foto vom Vorplatz des Bahnhofes Floridsdorf

Die Unmöglichkeit den 31er zu finden!

Für all jene die weder das Glück noch Pech haben eine (Groß-)stadt als ihre Heimat bezeichnen zu dürfen, will ich eine kurze Beschreibung jener Lokalität geben, die in meiner Geschichte die Hauptrolle spielen soll: In Wien gibt es einige äußerst umfangreiche Verkehrsknotenpunkte für öffentliche Verkehrsmittel, aber auch Autos, Fahrräder und jede Menge Leute bevölkern diese zumeist. Sie zu umgehen und möglichst zu vermeiden ist der Wunsch jeder blinden Person, leider lässt sich das aber nicht immer vermeiden…

Einer dieser Knotenpunkte ist der Bahnhof samt Vorplatz in Floridsdorf und befindet sich im Norden von Wien. Dort geben sich Busse, Schnellbahnen, Straßenbahnen und eine U-Bahn die Schiene in die Hand. Vom Individualverkehr gar nicht zu sprechen. Hinter dem 31er verbirgt sich eine Straßenbahnlinie, welche durch diesen Verkehrs-Moloch führt – zu ihm hin und vom ihm weg.

Nun genug der einführenden Worte, ich will beginnen: Da ich ein Abenteurer und experimentierfreudiges Bübchen bin, wollte ich, aufgrund widriger Umstände (die Sperre eines großen Teiles der Wiener Schnellbahn wegen Gleisbauarbeiten) versuchen, alternative Wege nach Hause zu meiner Frau zu finden. Eine der Möglichkeiten war, mit der Schnellbahn zu ebendiesem Knotenpunkt zu fahren. Gesagt, getan und dort ausgestiegen. Da meine gewählte Vermeidungs- und Umgehungsstrategie bisher Erfolg zeigte, kannte ich mich natürlich „null“ aus.

Ein akustisches Feuerwerk

Vom Bahnsteig zu finden, war nicht die Schwierigkeit, ich musste nur denjenigen nachlaufen, die auch dort weg wollten. Dann spuckte mich die Rolltreppe in einen verdammt langen und breiten Gang aus. Ich beschloss, diesem nach links zu folgen – ich wusste nicht warum, ich hatte wohl gerade meinen „linken Tag“. Bisher hatte ich bei meinen Abenteuerfahrten jedes Mal das Glück relativ bald auf jemanden zu treffen der mich ansprach und mich nach meinem Begehr fragte. Diesmal schien ich jedoch vom Glück verlassen zu sein, denn ich erreichte den Ausgang ohne angesprochen zu werden.

Ins Freie tretend „sah“ ich mich dem Alptraum eines jeden blinden Menschen gegenüber: Ein stetes Geräuschgemenge, das sich wie eine ständig laufende WC-Spülung, Kindergeschrei und das Geklimper eines Spielautomaten anhörte. Straßenlärm drang an meine Ohren und über allem hörte ich die ewige Melodie von Schritten, telefonierenden PassantInnen und sich unterhaltenden Wartenden. Und auch die Nase kam nicht zu kurz, Floridsdorf riecht nach Essen und Gummi.

Nun, da stand ich mit meinem Blindenstock in der Hand – um mich „herblicken“, bittend, Hilfe suchend, so hoffte ich… Ich erinnerte mich an eine Diskussion mit meiner Mobilitäts-Trainerin die mir riet, wenn ich Hilfe bräuchte den Kopf hin und her zu drehen, als ob ich etwas suchen würde. Damals erwiderte ich, ob sich denn sehende Menschen wegen dieses Verhaltens nicht veralbert vorkommen würden, da eine blinde Person ja nichts sehen könne. Warum also sollte man dann den Kopf hin und her drehen, als ob man etwas sehend suchen würde? Leider habe ich vergessen, was Sie mir darauf zur Antwort gab.

Sehende Blinde

Ich „sah“ also hin und her. Außer Nackenschmerzen brachte mir diese Aktion aber keinen Erfolg und so beschloss ich, ein wenig hin und her zu gehen, damit ich besser gesehen werden würde. Anscheinend war da auch ein Straßenmarkt, denn ich lief direkt hinein und bemerkte zu spät, dass ich einer Verkäuferin die Textilien feil bot, in die „Auslage“ gestiegen war. Ich spürte etwas weiches unter meinen Schuhen und wurde gebeten, Acht zu geben. Leider wurde mir nicht gesagt, worauf eigentlich. Da diese Aufforderung in sehr gebrochenen Deutsch herüber kam, verzichtete ich darauf, diese Verkäuferin als Informationsquelle zu verwenden. Zum vermehrten Mal hatte ich nun bereits versucht, mir entgegenkommende „Schuhe“ anzusprechen: „Entschuldigung bitte!“. Aber ich befand mich in der bedauerlichen Lage unter „Blinde“ geraten zu sein, die von sich glaubten, sehen zu können.

Noch mal von vorne…

Da ich in dieser atemberaubenden Geräuschkulisse auch keine Straßenbahn mehr hören konnte, denn während der vergangenen Viertelstunde musste doch zumindest ein Wagen vorbeigekommen sein, beschloss ich wieder ins Gebäude zu gehen und dem langen, breiten Gang doch nach rechts zu folgen. Vielleicht hätte ich ja doch meinen „rechten Tag“ haben sollen. Am anderen Ende angekommen, erneut ohne angesprochen zu werden fragte ich mich inzwischen, ob ich überhaupt sichtbar war. Zwar hörte ich auch hier keine Straßenbahn, dafür aber eine „Handy-Telefoniererin“. Auf diese ging ich zu und hörte ihr schamlos zu. Als sie ihr Gespräch beendet hatte, sprach ich sie an wo denn hier die Haltestelle des 31ers sei. Diese gab mir die Auskunft, dass hier nur die Busse wegfahren würden und ich auf die andere Seite müsse, also dorthin wo ich gerade hergekommen bin.

Naja, ich kannte den Weg ja schon. Erneut drüben angekommen ging ich wieder hin und her und spürte mit dem Stock eine Bordsteinkante, welcher ich folgte. Ich befand mich allerdings hörbar am Rand einer Straße und so machte ich wieder kehrt. Ich entdeckte, dass ich nun vollends die Orientierung verloren hatte und ohne fremde Hilfe sowieso nicht weiterkommen würde. Anscheinend war ich in die Nähe einer Telefonzelle geraten, in der eine Frau sprach. Als sie auflegte sprach ich sie an, aber sie wollte offensichtlich nichts mit mir zu tun haben und so konnte sie mir auch den Buckel hinunter rutschen.

„Wie Columbus vor Indien“

Ich hörte eine Straßenbahn! Das war doch schon ein kleiner Erfolg. Aber da Straßenbahnen ziemlich groß sind und ich unter ihren Rädern leicht zerquetscht werden könnte, näherte ich mich nur sehr vorsichtig an. Erneut vergingen 20 Minuten bis mich endlich jemand ansprach. Es war ein älterer Mann, der mich fragte ob ich auf die Straßenbahn wartete. Er sagte mir, dass hier keine Wartestelle wäre. Wenn mir Floridsdorf nicht schon zum Hals heraus gehangen wäre, hätte ich ihn am liebsten gefragt, ob er in der Witzkiste geschlafen habe.

Er buxierte mich über einen stillgelegten Schienenstrang, vorbei an der falschen Richtung der richtigen Straßenbahnlinie und durch zwei Absperrungen und direkt vor eine herankommende Straßenbahn, der ich im Laufschritt entkam. Da war ich nun also, fühlte mich wie Columbus vor Indien, welches sich später bekanntlich als Amerika herausstellte und hatte mein Eiland gefunden. Die richtige Straßenbahn aus den vielen Heranrollenden herauszufinden, war dann nur mehr ein Hineinrufen in den Wagen und das Lauschen der Antwort.

An all jene, die einen Menschen mit Blindenstock sehen, der ziellos irgendwo herumläuft, will ich appellieren auf ihn/sie zuzugehen und sie/ihn anzusprechen! Seien Sie gefasst darauf, dass er/sie schon verzweifelt sein könnte, weil ihr/ihm (davor) niemand helfen wollte…

(Foto UrheberIn: MyFriend)